Dissoziative Bewegungsstörungen: „und plötzlich konnte ich nicht mehr laufen…“

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Dissoziative Bewegungsstörungen werden vor allem in Verbindung mit traumatischen Erfahrungen beobachtet. Möglich sind „Dämmerzustände“ bis hin zu komplexen Lähmungen oder Körperverzerrungen. Oft verunsichern diese Zustände die Person selbst aber auch sein Umfeld beträchtlich.
Historische Erklärungsversuche
Wenn man den Begriff „dissoziativ“ übersetzt, bedeutet er „gespalten“ oder „getrennt“. In religiösen Mitschriften wird schon sehr früh von „Dämonen“ und „Besessenheit“ erzählt. Hier finden sich schon erste detaillierte Beschreibungen dissoziativer Formen. Gmelin von Tübingen schrieb in seinen Aufzeichnungen 1791 von einer „ausgetauschten Persönlichkeit“. Dem folgten viele weitere mehr oder weniger spektakuläre Fallgeschichten[1], in denen ein Störungsbild beschrieben wird, dass eine gespaltene Persönlichkeit abbildet (Gast, Wabnitz; 2017).
Die Gründungsväter gingen davon aus, dass ein Mensch seine Persönlichkeit spalten kann und es somit zu solchen Krankheitsbildern kommt, auch zu Bewegungsstörungen. Der französische Psychiater Piere Janet z.B. beschreibt die Dissoziation als eine Struktur bzw. Organisationsform der Persönlichkeit und reiht sich somit in diese Sichtweise ein (Gast, Wabnitz; 2017). Er stellte bei seinen Patienten, die schwere Traumatisierungen durchlebt hatten, fest, dass ihnen bestimmte Bewusstseinsinhalte nicht mehr zugänglich waren. Diese Annahmen benutzte Morton Prince dann, um seinen Begriff des „Co-Bewusstseins“ einzuführen.
Siegmund Freud sah die Dissoziation dagegen als Abwehrmechanismus gegen unbewusste Triebe und lehnte die Theorie einer strukturierten Persönlichkeit ab. Vor allem in seinen Studien mit Breuer werden auch dissoziative Bewegungsstörungen in Zusammenhang mit der Hysterie beschrieben[2]. Ernsthafte Kritik an Freud/Breuer kam 1942 von dem Psychiater und Arzt Bleuler und anderen, als dieser sein Konzept der Schizophrenie kommunizierte. Es wurde ihnen vorgehalten, dass sie durch Hypnose „unterschiedliche“ Persönlichkeiten erschaffen würden.
Moderne Sichtweisen und Zugänge
Nachdem die Dissoziation lange Zeit hinter dem Begriff der Schizophrenie entschwand, kann man ab den 70er Jahren eine Wiederentdeckung feststellen. Vor allem gesellschaftliche und neue wissenschaftliche Erkenntnisse führten dazu. Auch die Psychoanalyse beschäftigte sich wieder mehr mit diesem Störungsbild. C. Wilbur und R. Kluft schafften es durch ihre Forschungen zu dissoziativen Störungen, dass diese klinische Diagnose 1980 Einzug ins DSM fand (Gast, Wabnitz; 2017).
Die Arbeitsgruppe um Nijrnhuis, van der Hart und Steele lehnen sich an das Modell der strukturellen Persönlichkeit von Janet an und konnten herausstellen, dass die Dissoziation ein Kernmerkmal traumatischer Erfahrungen ist. Die Unterscheidung von somatoformen und anderen dissoziativen Störungen wurde nun möglich. Allerdings bleiben bis heute alle Definitionen bzw. Einordnungen eher schwammig und ungenau. Zum Teil liegt dies wohl daran, dass dissoziative Störungen sehr vielfältig sind und zudem oft zusammen mit anderen Krankheitsbildern beobachtet werden können. Wichtig ist es jedoch, dass es eine differenzierte Beschreibung über dissoziative Störungsformen gibt, an der man sich orientieren kann.
[1] z.B. von Morton Prince etc.
[2] siehe den Fall Anna O. (Freud)
Psychopathologische Kriterien – ICD 10 und DSM IV
ICD 10 ( = Bibel in der Psychologie zur Diagnostik)
Im ICD 10 werden die dissoziativen Bewegungsstörungen innerhalb der dissoziativen Störungen als Unterform der „Dissoziativen Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindung“ (F.44.4-F.44.7) eingeordnet. Es wird hier von akuten Störungen basierend auf Stresserlebnisse und/oder Traumata ausgegangen, die innerhalb einiger Wochen und Monate remisieren. Ein innerpsychischer Konflikt wird zu einem körperlichen Symptom, was den Zweck der Vermeidung äußerer Konflikte in sich trägt. Die körperliche Störung ist also sozusagen eine Abspaltung von Konflikten, die in diesem konserviert und aus dem Bewusstsein ausgeschlossen werden.
Zu der dissoziativen Bewegungsstörung gehören laut ICD 10 „…der vollständige oder teilweise Verlust der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperglieder.“ (Dilling, Mombour; Schmidt; ICD 10; WHO 2015; S. 221). Dabei kann eine solche Lähmungserscheinung dadurch gekennzeichnet sein, dass nur noch schwache oder langsame Bewegungen möglich sind, aber auch eine komplette Lähmung eintritt. Ebenso kann eine mangelnde Koordination (Ataxie) vorkommen, die sich vor allem in den Beinen bemerkbar macht und zu einem bizarren Gang führen kann oder zur Unfähigkeit ohne Hilfe zu stehen (Astasie) oder gehen (Abasie) zu können. Es wird auch ein übertriebenes Zittern oder Schütteln von Extremitäten oder dem ganzen Körper im ICD 10 berichtet (Dilling et al.; ICD 10; WHO 2015; S. 221).
DSM V ( = weiteres Nachschlagewerk für Psychologen etc. zur Diagnostik)
Im DSM V finden wir unter den somatischen Belastungsstörungen und verwandte Störungen eingeordnet die Konversionsstörungen (300.11). Es wird ebenfalls davon ausgegangen, dass die Symptombildung durch belastende Ereignisse zustande kommt. Es wird zwischen motorischen und sensorischen Auffälligkeiten unterschieden.
Als motorische Symptome werden Schwäche oder Lähmung genannt. Dazu können Tremor oder Dystonien und auch ein auffälliger Gang oder eine untypische Körperhaltung beobachtet werden. Zu den sensorischen Störungen zählen laut DSM V verminderte oder fehlende Empfindungen der Haut und auch Seh- oder Hörbeeinträchtigungen. Ebenfalls wird das Schütteln oder Zittern der Gliedmaßen sowie im ICD 10 als mögliches Symptom benannt, die mit „..augenscheinlichen Bewusstseinseinschränkungen…“ einhergehen (Falkai, Wittchen; DSM V; APA 2015; S. 435).
Im DSM V sind die Bewegungsstörungen aufgrund innerpsychischer Konflikte basierend auf ein traumatisches bzw. belastendes Ereignis entstanden, aber sie beinhalten nicht den Konflikt an sich. Die Konversionsstörungen sind hier eher Begleiterscheinungen psychischer Konflikte, also somatoform.
Verbreitung der dissoziativen Bewegungsstörung
Es gestaltet sich als sehr schwierig, genaue Aussagen über die Verbreitung der dissoziativen Bewegungsstörung zu treffen, da sie besonders als Begleiterscheinung anderer psychischer Erkrankungen diagnostiziert werden. Die Symptome dissoziativer Störungen im Allgemeinen zeigen laut ICD 10 zwischen 2-6% der Bevölkerung (Dilling et al.; ICD 10; WHO 2015; S. 223).
Im DSM V sind vorübergehende Konversionsstörungen als häufig angegeben, die jedoch bei ca. 5% der Einweisungen erst in der Sekundärversorgung dokumentiert werden. Anhaltende Konversionsstörungen sollen bei 2-5/100.000 Patienten pro Jahr vorkommen (Falkai et al.; DSM V; APA 2015; S. 437).
Leider eine oft unerkannte psychische Störung….
Bei diesem Störungsbild kommt es aufgrund der bereits angesprochenen fehlenden Genauigkeit hinsichtlich der Symptombeschreibung und Diagnostik oft zu Diagnosefehlern. So dauert es durchschnittlich ca. sieben Jahre bis eine dissoziative Bewegungsstörung als solche erkannt und behandelt wird. Die Gefahr der Generalisierung ist somit sehr hoch, vor allem am Anfang der Krankheit, die ja oft mit einem traumatischen Erlebnis beginnt. Oft werden diese Bewegungsstörungen übersehen oder mit anderen psychischen Störungen sublimiert (Fiedler; 2013).
Die dissoziativen Störungen einschließlich der Bewegungsstörungen treten bei Frauen neun Mal häufiger auf als bei den Männern. Allerdings kann das auch an der fehlenden Sensibilität des männlichen Geschlechts liegen und, dass man (Mann) viel später oder gar nicht nach psychotherapeutischer Hilfe sucht. Bei Verdacht sollte man sich auf jeden Fall Hilfe suchen.
Auch lesenswert: Die 5 bekannten Trauma-Störungen
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