ADHS als kulturelle Erscheinung in einer Leistungsgesellschaft – Teil 1

ADHS
  1. Home
  2. /
  3. Psycho-Kram
  4. /
  5. Psychische Störungen
  6. /
  7. ADHS als kulturelle Erscheinung...

 

ADHS scheint eine moderne Erscheinung zu sein und immer mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene bekommen diese Diagnose zugesprochen. Leider wird sich hierbei immer noch auf rein diagnostische Kriterien innerhalb der Psychotherapie beschränkt. Psychologie und Kultur werden leider viel zu selten zusammen gesehen.

Dabei kann es sich lohnen, sich psychische Störungen, die in einer bestimmten Zeit gehäuft auftreten in einer Gesellschaft, auch aus kultureller Sicht einmal genauer anzusehen. Können psychischen Störungen als kulturelle Erscheinungen gesehen werden? 

Reimund Reiche versucht diesen Blick und schafft damit erstaunliche neue Horizonte in Bezug auf psychische Erkrankungen – und eben auch auf ADHS!

Störungstypen einer Gesellschaft

In seinem Buch „Triebschicksal der Gesellschaft“ (2004)* beschäftigt sich R. Reiche in verschiedenen Aufsätzen damit, wie Gesellschaft sich auf die psychische Gesundheit ihrer Mitglieder auswirken kann und welchen Nutzen es hat, sie als Leidquelle mitzudenken. Dabei wendet er psychoanalytische Begriffe und Konstrukte sowie sozialkritische Gedanken zur Erklärung seiner Thesen an.

Reiche geht davon aus, dass die Gesellschaft einen unmittelbaren Einfluss auf unsere psychische Struktur(aus)bildung haben muss. Ihm zufolge kann die Psyche des Menschen ohne Gesellschaft gar nicht gedacht werden. Erst das miteinander Agieren von Individuum und Gesellschaft erschafft psychische Strukturen.

„Psychische Struktur bildet sich demnach in einem ständigen Prozess der Metabolisierung von Außen- in Innenwelt und von Körper in Seele.“ (R. Reiche; 2004; S. 12)

In seinem Aufsatz des o.g. Buches „Haben frühe Störungen zugenommen?“ befasst sich R. Reiche vornehmlich mit unserem Thema, weshalb ich im Folgenden hauptsächlich auf diesen Bezug nehmen. „Frühe Störungen“, von denen im Aufsatz die Rede ist, sind:

„Das Prädikat »früh« will dabei global den Umstand oder besser: die Behauptung unterstreichen, dass die kindlichen Muster der aneignenden Verinnerlichung der äußeren Realität – und das bezeichnen wir als die Bildung psychischer Struktur – zu einem Entwicklungszeitpunkt gestört werden, der chronologisch früher liegen soll als bei den von Freud axiomatisch fixierten Übertragungsneurosen (Hysterie, Zwangsneurose, Phobie). Dabei wird, wiederum schematisch gesprochen, eine relative Identität von »früher gestört« gleich »schwerer gestört« angenommen. (ebd. S. 42)

ADHS als Beispiel einer psychischen Erkrankung in einer Leistungsgesellschaft

ADHS

Auf das Phänomen ADHS bezogen könnte man z.B. also laut R. Reiche annehmen, dass wenn die äußere Realität eines Kindes „laut, unruhig und unstrukturiert“ daherkommt, sich als inneres Muster in der kindlichen psychischen Struktur manifestiert und z.B. als ADHS-Symptom wieder nach außen dringt.

Neraal et al. (2008) stellen sich ebenfalls diese Frage in ihrer Untersuchungsreihe zu ADHS: „Die Symptomsprache: Wie wird innere Befindlichkeit nach außen sichtbar?“* (S. 26). Für die Forscherinnen sind ADHS-Symptome oft „Spannungszustände im Kind, die abgebaut werden müssen (…)“ (S. 37). R. Reiche fragt zusätzlich, ob diese Spannungszustände gesellschaftlich „gemacht“ sind und geht somit in eine tiefere Ebene des Verstehenwollens.

Der Autor zeichnet sodann einige gesellschaftskritische Stationen nach. Er geht über Kohut und Vertreter der Frankfurter Schule bis zur heutigen oft vertretenen Meinung, dass die Umwelt grausame, kranke und völlig destruktive Menschen hervorbringen „muss“, also einen kausalen Schluss zwischen Gesellschaft und Subjektbildung ziehen. R. Reiche folgt diesem Gedanken nicht:

„Gegen diesen überwältigenden Augenschein, den ich eben nur ausschnitthaft gestreift habe, vertrete ich die Ansicht, dass der anhaltende Modernisierungsschub in den posttraditionalen Gesellschaften nicht zu einer Zunahme »früher Störungen« führt. Eher lässt er das Potential an »früher Störung« früherer Epochen unter seinem eigenen Namen auftreten und zu sich selbst kommen.“ (ebd. S. 46, Markierungen erfolgten durch Verfasserin).

Auch lesenswert: Wie kam FREUD zu seinem Gedankenmodell?

  1. Home
  2. /
  3. Psycho-Kram
  4. /
  5. Psychische Störungen
  6. /
  7. ADHS als kulturelle Erscheinung...

 

Das könnte dich auch interessieren …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

YouTube
YouTube
Pinterest
Pinterest
fb-share-icon
Instagram
Tiktok